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Neues aus Hessen – VGH Kassel zum Runderlass „Naturschutz/Windenergie“
Der erst mit Datum des 17.12.2020 eingeführte Runderlass „Naturschutz/Windenergie“ für das Land Hessen wurde vom VGH Kassel mit Beschluss vom 14.01.2020 (Az.: 9 B 2223/20) postwendend inhaltlich in Frage gestellt. Interessant wird diese Entscheidung auch im Hinblick auf das neu eingeführte Hinweispapiere zum Artenschutz in Baden-Württemberg, das teilweise in Hessen gewonnene Erkenntnisse übernimmt.
Sachverhalt
Gegenständlich ist die einem Windenergiebetreiber gegenüber erteilte und für sofort vollziehbar erklärte Genehmigung für die Errichtung und den Betrieb von drei Windenergieanlagen in Nordhessen aus dem Jahr 2017, die von einer anerkannten Naturschutzvereinigung beklagt wird. Im Rahmen des Eilverfahrens hat der VGH Kassel auf Antrag der Naturschutzvereinigung die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Genehmigungsbescheid wiederhergestellt. Das zugelassene Berufungsverfahren in der Hauptsache ist beim VGH Kassel anhängig.
Der Senat beschäftigt sich in seinem Beschluss insbesondere mit der Frage, ob hinsichtlich der Art Rotmilan ein Abstand von 1.000 m oder 1.500 m zwischen einem Horst und dem Standort einer Windenergieanlage einzuhalten ist. In einem nördlich vom geplanten Anlagenstandort gelegenen FFH-Gebiet wurde in einem Abstand von 1.300 m ein Rotmilanhorst kartiert. Aufgrund der Abstandsunterschreitung von 1.500 m wäre aus Sicht des Gerichts eine weitergehende gutachterliche Untersuchung etwa in Form einer Habitatpotenzial- oder Raumnutzungsanalyse erforderlich gewesen, die jedoch nicht durchgeführt wurde. Da bereits eine Beeinträchtigung des Rotmilans in dem betroffenen FFH-Gebiet nicht ausgeschlossen werden konnte und folglich die Vorschrift des § 34 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 BNatSchG (FFH-Verträglichkeitsprüfung) wahrscheinlich verletzt wird, könne dahinstehen, ob durch das Vorhaben auch eine Verletzung von § 44 Abs. 1 BNatSchG zu besorgen sei.
Helgoländer Papier vs. landesspezifische Abstände
Der neue hessische Runderlass vom 17.12.2020 sieht eine Abstandsempfehlung von 1.000 m für die Art Rotmilan vor. Derselbe Abstandswert war bereits in dem Vorgängererlass – hessischer Artenschutzleitfaden vom 29.11.2012 – angelegt. Diese Vorgabe geht auf die erste Fassung des sog. Helgoländer Papiers der Länderarbeitsgemeinschaften der Vogelschutzwarten (LAG VSW) aus dem Jahr 2007 zurück, welches einen Abstand von 1.000 m von Windenergieanlagen zu Brutplätzen der Art Rotmilan vorgesehen hat.
Zwischenzeitlich sind diese Abstandsempfehlungen indes überarbeitet und angesichts neuerer wissenschaftlicher Erkenntnisse angepasst worden. Das aktuell gültige Helgoländer Papier aus dem Jahr 2015 sieht für den Rotmilan einen Mindestabstand von 1.500 m vor. Eine Studie über das räumliche und zeitliche Verhalten von Rotmilanen aus Thüringen habe ergeben, dass nur rund 40 % der Flugaktivitäten in einem Radius von 1.000 m um den Brutplatz erfolgen. Dies lasse eine Erweiterung des Mindestabstandes auf 1.500 m erforderlich werden.
Das Land Hessen hält aufgrund eigener landesspezifischer Untersuchungen der Art Rotmilan jedoch an einer Abstandsempfehlung von 1.000 m fest. Eine dreijährige telemetrische Rotmilan-Studie im Vogelschutzgebiet Vogelsberg habe ergeben, dass 60 % der Flugbewegungen des Rotmilans bereits innerhalb einer 1.000 m Distanz um den Horst erfolgen. Die somit festgestellte enge Horstbindung lasse die Reduzierung des Abstandswertes zu.
Einordnung durch den VGH Kassel
Der VGH Kassel führt in seinem Beschluss aus, dass es dem aktuellen Stand der Wissenschaft entspreche, einen Mindestabstand von 1.500 m zwischen Rotmilanhorst und Windenergieanlage zu fordern. Grundlage für diese Einordnung ist das Helgoländer Papier 2015, das den aktuell besten wissenschaftlichen Erkenntnisstand widerspiegele. Aus Sicht des Senats wird in dem neuen hessischen Runderlass nicht nachvollziehbar dargelegt, aus welchen Gründen die Ergebnisse der Studie im Vogelschutzgebiet Vogelsberg in Mittelhessen auf das gesamte Bundesland Hessen übertragbar sein und eine Abstandsreduzierung rechtfertigen sollen. So sei insbesondere nicht nachvollziehbar, dass die Modifikationen, auf der die am Vogelsberg durchgeführte Studie basiert, auf fachlichen Erkenntnissen beruhen, die landesweit Geltung beanspruchen können.
Abweichungsmöglichkeiten vom Helgoländer Papier?
Es drängt sich die Frage auf, ob das Helgoländer Papier tatsächlich den aktuellen Stand der Wissenschaft darstellt und ob Abweichungen von dessen Vorgaben zugelassen werden können.
Das Helgoländer Papier 2015 räumt die Möglichkeit ein, die Abstandsempfehlungen landesspezifischen Gegebenheiten anzupassen, weil sich die naturräumlichen Gegebenheiten, die Flächennutzung sowie das vorkommende Artenspektrum in den Bundesländern voneinander unterscheiden. Laut dem VGH Kassel soll dies jedoch nur für nachvollziehbar begründete Einzelfälle gelten.
Auch das Land Baden-Württemberg, welches Anfang 2021 ebenfalls ein neues Hinweispapier herausgegeben hat, weicht von den Empfehlungen des Helgoländer Papiers ab und sieht für den Rotmilan einen Abstand von 1.000 m vor. Allerdings ist hier die Besonderheit zu beachten, dass landesweit fachliche Erkenntnisse gesammelt und nicht nur – wie in Hessen – einzelne Landschaftsräume separat in den Blick genommen wurden. Gleichwohl hielt der VGH Mannheim zuletzt mit Beschluss vom 06.08.2020 (Az.: 10 S 2941/19) fest, dass der Abstandswert von 1.500 m aus dem Helgoländer Papier keinen bundesweit allgemein anerkannten Stand der Wissenschaft darstellt, weil bereits ausdrücklich länderspezifische Abweichungsmöglichkeiten vorgesehen sind. Die Neufassung des Hinweispapiers zur Erfassung und Bewertung von Vogelvorkommen Baden-Württemberg vom 15.01.2021 behält den 1.000 m-Radius bewusst bei.
Schließlich sieht auch der von der Umweltministerkonferenz am 11.12.2020 beschlossene Signifikanzrahmen für den Rotmilan einen Regelabstand von 1.000 m bis 1.500 m vor, der von den Ländern anhand der unterschiedlichen Lebensraumausstattung festgelegt werden kann.
Neben den aufgezeigten Abweichungsmöglichkeiten ist ferner zu berücksichtigen, dass sich an dem Zustandekommen sowie an der Anerkennung des Helgoländer Papiers in Wissenschaft und Praxis durchaus Kritik üben lässt.
Rechtswirkung
Unmittelbare Bindungswirkungen entfalten der neue hessische Runderlass wie auch die Artenschutzleitfäden anderer Länder lediglich in den hierarchischen Organisationsstrukturen der Fachverwaltungen. Die Rechtsprechung ist hingegen nicht an die Erlasse und Leitfäden gebunden; allerdings können die Gerichte deren Inhalte für ihre eigene Auslegung aufgreifen.
Für den VGH Kassel besteht demzufolge keine Bindungswirkung an den Inhalt des hessischen Runderlasses. Aus Sicht des Senats erweist sich die Begründung des abweichenden Abstandswerts für die Art Rotmilan als nicht plausibel. Mit diesem Beschluss aus einem einzelfallbezogenen Eilverfahren wird jedoch nicht die gesamte Verwaltungsvorschrift außer Kraft gesetzt. Für die Verwaltung entfaltet sie nach wie vor Bindungswirkung.
Bewertung
Es existieren derzeit keine artenschutzrechtlichen Arbeitspapiere, denen eine im gerichtlichen Verfahren zu beachtende Bindungswirkung zukommt – wie etwa den Technischen Anleitungen (TA) zur Reinhaltung der Luft und zum Schutz gegen Lärm. In seinem richtungsweisenden Beschluss vom 23.10.2018 (Az.: 1 BvR 2523/13) hat das BVerfG bereits festgestellt, dass es den Gerichten nicht möglich ist, bezogen auf eine streitig gestellte methodische oder sonstige naturschutzfachliche Frage den zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt aktuellen Stand der ökologischen Wissenschaft aus eigener Sachkunde zu klären. Das BVerfG hat dem Bundesgesetzgeber einen Gesetzgebungsauftrag zur Regelung des Artenschutzrechts erteilt, während sich die Gerichte auf eine Plausibilitätskontrolle beschränken müssen.
Einer solchen Plausibilitätskontrolle halten die Ausführungen der hessischen Verwaltungsvorschrift zu den Abstandsempfehlungen für den Rotmilan nach Ansicht des VGH Kassel nicht stand. Folge dieser Einordnung darf jedoch nicht sein, dass es neuerdings allein der Einschätzung der Gerichte obliegt, ob Erkenntnisse und Methoden als wissenschaftlich vertretbar zu bewerten sind oder nicht. Vielmehr unterstreicht der Beschluss die Notwendigkeit einer normativen Konkretisierung des Artenschutzrechts und insbesondere der Frage, unter welchen Voraussetzungen sich ein abweichungsfester wissenschaftlicher Erkenntnisstand durchgesetzt hat.
Das Artenschutzrecht muss für Behörden und Gerichte rechtssicher gestaltet werden – eine bundeseinheitliche Maßstabsbildung durch die Entwicklung einer „TA Artenschutz/Wind“ ist dringend notwendig. Letztlich indes muss in Europa politisch entschieden werden, ob die EU- Rechtsgrundlagen (FFH Richtlinie; Vogelschutzrichtlinie) geändert werden - hin zur Energiewende - weg vom von vermeintlichem Naturschutz.
- Quelle:
- Maslaton
- Autor:
- Pressestelle
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